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Beitrag vom 17.03.2023

NZZ

Kritik am einst kolonialen Süden darf nicht tabu sein

Der globale Süden ist den Kolonialismus losgeworden und nagt doch noch immer an dessen Folgen. So oder so gibt es Missstände, die man von aussen anprangern können muss.

Gastkommentar von Hans Christoph Buch

Die gute Nachricht zuerst: In über fünfzig Jahren habe ich über fünfzig Bücher veröffentlicht, Romane, Erzählungen, Essays und Reportagen. Die schlechte Nachricht: Mein Lebenswerk, wenn man den Bücherberg so nennen will, ist von Totschweigen und Vergessen bedroht, nicht etwa, weil es seine Aktualität verloren hat, sondern aufgrund von Faktoren, die sich dem Zugriff des Autors entziehen.

Gemeint sind Sprech- und Denkverbote, deren Urheber sich anmassen, Fragen von Geschlecht, Hautfarbe und ethnischer Identität mit Unfehlbarkeitsanspruch zu beantworten. So besehen ist der Wokeism nur die Kehrseite des Kolonialismus und Rassismus, gegen den man zu Felde zieht, um ihn im Mülleimer der Geschichte zu entsorgen.

Tilgung von Begriffen

Ein Resultat der Verballhornung sogenannter «french theory» besteht darin, dass Kinder- und Jugendbücher wie «Struwwelpeter» und «Pippi Langstrumpf», aber auch «Winnetou», «Tom Sawyer» und andere geschwärzt oder eingestampft werden müssen.

Das betrifft mich persönlich, denn ich habe das Glück oder Pech, dass die Mehrzahl meiner Bücher in Afrika, Südamerika oder Haiti spielt, wo ich gelebt und gearbeitet habe, motiviert von grundsätzlicher Sympathie für die Dritte Welt, die heute globaler Süden heisst. Doch das ist kein Bonus in den Augen postkolonialer Kritiker, die nichts verstehen von Ausbeutung und Unterdrückung, weil es ihnen nur darum geht, Gesinnungsdruck zu erzeugen durch Verwendung progressiv klingender und Vermeidung toxisch wirkender Wörter.

Ihr keineswegs selbstloses Engagement ist weder durch das Studium der Kolonialgeschichte noch Sachkenntnis beglaubigt. Hierfür ein Beispiel: 1984 veröffentlichte ich bei Suhrkamp den Roman «Hochzeit von Port-au-Prince» über die Selbstbefreiung der Sklaven in Frankreichs Kolonie Saint Domingue. Inspiriert durch die Ideale von 1789, besiegten sie ein von Napoleon entsandtes Heer und gründeten Haiti, die – nach den USA – älteste Republik Amerikas. Ein politisches Novum, denn seit Spartacus waren alle Sklavenrevolten gescheitert. Vor diesem Hintergrund erzähle ich die Geschichte meines Grossvaters, der als Apotheker nach Haiti ging und eine Kreolin heiratete. Seine Nachkommen wurden von den Nazis rassistisch diskriminiert.

Der Roman wurde gut aufgenommen, aber ausgerechnet eine in New York lebende Deutsche, keine Afroamerikanerin, übte harsche Kritik, weil das Tabuwort «Neger» darin vorkam. Vergeblich wies ich darauf hin, dass «nèg» auf Kreolisch Mensch oder Mann bedeutet ohne negativen Hintersinn. Ich kannte Haiti und nahm naiverweise an, vom dortigen Sprachgebrauch ausgehen zu können. Weit gefehlt. Was zählte, war die Zensur durch eine selbsternannte Sprachpolizei, die dafür sorgt, dass Begriffe wie Mulatte, Mestize und Indianer aus Büchern entfernt werden. Der Streit um die Umbenennung der Berliner «Mohrenstrasse» ist nur ein Symptom dafür.

Die Bevormundung dehnte sich auf angrenzende Gebiete aus: In einer Ausstellung der «Brücke»-Maler im gleichnamigen Museum wurden Bilder von Emil Nolde und Max Pechstein, die 1913 Palau und Neuguinea besuchten, damals noch deutsche Kolonien, kurzerhand umbenannt: Die Eingeborenen oder Insulaner hiessen fortan Ureinwohner, Stamm wurde durch Volksgruppe ersetzt. Und im Begleittext zu einem Aktbild von Ernst Ludwig Kirchner glaubt die Kuratorin die Frage aufwerfen zu müssen, ob der Maler mit dem schwarzen Modell «Sex hatte» oder nicht.

Die Herkunft der als Fortschritt getarnten Zensur aus der sogenannten Gender-Sprache liegt auf der Hand, obwohl es zwischen Feminismus und Postkolonialismus keine Verbindung gibt. Doch der Eindruck täuscht: Die Unterjochung indigener Kulturen durch spanische Konquistadoren wurde schon von Las Casas als Vergewaltigung angeprangert. Doch die Verhunzung historisch gewachsener Sprachen durch Femininformen, die es dort nie gab, gilt als Kavaliersdelikt. Die Gleichschaltung des Denkens und Sprechens griff auf die Medien über. Eine deutsche Wochenzeitung warf mir vor, Haiti allzu negativ darzustellen: Kidnappings sind dort an der Tagesordnung, Taxis und Schulbusse werden samt Passagieren entführt, und seit Präsident Moïse im Bett erschossen wurde, ist das Land ohne Regierung und wird von Gangsterbanden terrorisiert. Hilfsappelle an die Vereinten Nationen und Bitten um Eingreifen aus den USA oder Kanada verhallten ungehört.

Das ist das Gegenteil von fröhlicher Anarchie und sexueller Freiheit, die zivilisationsmüde Europäer und Amerikaner nach Haiti trieb, wo sie das Aids-Virus verbreiteten; später schleppten Blauhelmsoldaten die Cholera ein. Das sind nur zwei Glieder einer Kette von Fehlentwicklungen, die Anfang 2010 in einem Erdbeben mit 300 000 Toten gipfelte. Moderne Bauauflagen waren ebenso ignoriert worden wie die Vorsorge für den Katastrophenschutz.

«Falsch erlebt»

Doch das, was ich 1995 in Rwanda mit ansah, stellte alles in den Schatten, was ich in Haiti erlebt hatte, wo junge Menschen, die, um ihr Wahlrecht auszuüben, in einem Schulhof warteten, vor meinen Augen von Paramilitärs massakriert wurden. In Rwanda dagegen wurde ich Zeuge, wie 80 000 Binnenflüchtlinge vom Volk der Hutu auf einem Areal von der Grösse eines Fussballplatzes eingekesselt und von der Tutsi-Armee unter Beschuss genommen wurden. Ein vor Angst schlotternder Mann warf sich mir zu Füssen, Tutsi-Milizen führten ihn ab, Schüsse fielen, und ein Blauhelmsoldat, der gerade zu Mittag ass, brummte, ohne vom Teller aufzublicken: «This man dead!»

Falsch erlebt, sagten wohlmeinende Freunde, denn das Massaker in Kibeho mit bis zu 8000 Toten war die Rache der Befreiungsarmee für den Genozid an der Tutsi-Bevölkerung im Jahr zuvor: falsch erlebt! Im Süd- und Westsudan, in Osttimor, Liberia und Sierra Leone habe ich vergleichbare Greuel gesehen, ohne eingreifen zu können. Osttimor ist weit weg, aber in Bosnien und Kosovo ging es ähnlich zu, und der Tschetschenienkrieg übertraf an Unmenschlichkeit alles, was ich bis dato erlebt hatte.

Doch ich will die Leser nicht mit Albträumen konfrontieren, bei denen Vergessen zur Wohltat wird. Das gilt auch für Russlands «Spezialoperation» in der Ukraine, deren grauenhafte Auswüchse jede rationale Nachvollziehbarkeit übersteigen.

Es bringt nichts, alles, was schiefläuft in Afrika oder Haiti, dem Kolonialismus anzulasten. Wer so argumentiert, weist den Menschen dort die Rolle von Bittstellern zu. Die Bürger des globalen Südens werden zu Objekten reduziert, die auf Entschuldigungen für historisches Unrecht oder Geld, sprich Almosen, warten. So entsteht ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

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Hans Christoph Buch lebt als Schriftsteller in Berlin. 2022 erschien der Essayband «Nächtliche Geräusche im Dschungel» im Transit-Verlag.