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Beitrag vom 14.08.2023

NZZ

Künstliche Intelligenz zerstört Kenyas Ghostwriter-Industrie

Tausende junge Kenyaner helfen Studenten im Ausland, ihr Studium zu meistern – nun ruinieren Chatbots ihr Geschäft

Samuel Misteli, Nairobi

Wären dies normale Zeiten, würde Dennis, ein 29-jähriger Umweltingenieur in Nairobi, Kurse belegen an Universitäten in den USA, in Kanada, Grossbritannien und Australien. Er würde Prüfungen ablegen in Betriebswirtschaft, Soziologie, Psychologie oder Geschichte. Er würde Arbeiten schreiben, über das Strassennetz in Papua-Neuguinea zum Beispiel, über die Entstehung der chinesischen Zivilisation, über Lebensmittelherstellung in Kanada.

So hat er das bis vor wenigen Monaten getan. Der Kenyaner Dennis ist Ghostwriter für Studenten im Ausland, die entweder zu faul sind, um ihre Arbeiten und Prüfungen zu schreiben, oder überfordert. Er absolvierte bis zu fünfzehn Kurse gleichzeitig, nicht um einen Abschluss zu erlangen, den hat er längst, sondern um Geld zu verdienen: rund 500 Dollar pro Kurs. Das ergab in den normalen Zeiten manchmal einen Monatslohn von mehreren tausend Dollar.

Doch die normalen Zeiten sind vorbei. Im Juni hatte Dennis keinen einzigen Auftrag, im Frühjahr, eigentlich Hochsaison, insgesamt acht. Deswegen sagt Dennis an einem Samstagnachmittag in einem Café in Nairobi: «Die Industrie liegt im Sterben.»

Die «Industrie» sind junge Kenyanerinnen und Kenyaner, oft Universitätsabgänger, manchmal noch Studentinnen. Wie viele es sind, weiss niemand. Es gibt Facebook-Gruppen mit mehr als 20 000 Mitgliedern, in denen sich Ghostwriter austauschen und Aufträge vermittelt werden. Dennis sträubt sich, die Zahl der Ghostwriter zu schätzen, nicht weil es etwas zu verheimlichen gäbe, sondern weil er hohe Standards für Genauigkeit hat. Dann sagt er: 10 000.

Gerade scheint es, als würden die 10 000 durch eine einzige Arbeitskraft verdrängt. Ende November 2022 lancierte die amerikanische Firma Open AI Chat-GPT, einen künstlich intelligenten Chatbot, der Vorgängern um Längen überlegen ist. Das löste Begeisterung und Bestürzung aus. Journalisten beschrieben ihn als «unglaublich mächtiges Werkzeug, um Text zu generieren, Fragen zu beantworten und sogar manche Aufgaben zu automatisieren». In einigen Jahren würden KI-Bots wie Chat-GPT bei sehr viel Schreibarbeit assistieren, schrieben andere.

Panik an Hochschulen

Tatsächlich ging das viel schneller. Und viele der ersten Nutzer waren Studentinnen und Studenten. Nur zwei Monate nach der Einführung erreichte Chat-GPT 100 Millionen Nutzer. Zur selben Zeit befragte die Online-Lernplattform study.com mehr als 1000 amerikanische Schülerinnen und Studenten zu Chat-GPT. 89 Prozent gaben an, sie hätten den Bot als Hilfsmittel für Hausaufgaben benützt. 53 Prozent sagten, sie hätten Chat-GPT zum Schreiben einer Arbeit benützt.

An vielen Mittel- und Hochschulen brach Panik aus. New York sperrte an öffentlichen Schulen den Zugang zu Chat-GPT, weil Bedenken wegen negativer Auswirkungen auf das Lernverhalten der Schüler und wegen der Verlässlichkeit und Genauigkeit von Inhalten bestünden. Andernorts liessen Hochschulen Aufsätze vor Ort statt zu Hause schreiben. Die Uno-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) veröffentlichte ein Handbuch zum Umgang mit künstlicher Intelligenz. Firmen, die Software zur Plagiatserkennung herstellen, machten sich daran, Chat-GPT mit neuen Werkzeugen zu überführen.

Und in Kenya verloren Tausende von jungen Leuten ihre Arbeit.

«Schau dir diese Häuser an», sagt Ngugi und zeigt auf mehrstöckige Mietgebäude auf der anderen Strassenseite, «manche Leute haben mit dem Schreiben genug Geld verdient, um sich solche Häuser zu kaufen.» Ngugi sitzt in einer Freiluftbar in Kasarani, einem Quartier in Nairobi, in dem viele Junge und damit auch viele Ghostwriter leben.

2000 Dollar in guten Monaten

Wobei sich Kenyas Ghostwriter nicht als solche bezeichnen. Sie nennen sich schlicht «Autoren», ihr Geschäft ist «wissenschaftliches Schreiben». Ngugi war dabei, als die Industrie um 2010 entstand. Es war eine Zeit, in der das Internet schneller wurde, auch in ärmeren Ländern immer mehr Leute Smartphones besassen und die sozialen Netzwerke Menschen in verschiedenen Erdteilen näher zusammenbrachten.

Ngugi war Student im zweiten Jahr an der Universität, Umweltwissenschaften wie Dennis, die beiden kennen sich. Ngugi war schon an der Mittelschule ein ausgezeichneter Schüler, zum Studieren erhielt er vom Staat ein Stipendium. Doch ein Stipendium in Kenya heisst: Nach Abzug von Studiengebühren und Miete bleiben umgerechnet weniger als 50 Franken pro Semester. Das reicht nicht einmal für Essen.

Ein Freund erzählte Ngugi vom Schreiben für ausländische Studenten. In den Computerräumen der Universität zeigte er ihm, wie es funktioniert. Wie man recherchiert: keine Wikipedia, keine Blogs, dafür Datenbanken, wissenschaftliche Zeitschriften. Wie man das Recherchierte zitiert, mit Fussnoten, die je nach Land und Universität unterschiedlich sein können.

Dann schrieb auch Ngugi, zuerst über Betriebswirtschaft und Rechnungswesen, dann über Geschichte, Kunst, Architektur. «Nach zwei Jahren schrieb ich über alles», sagt er, «manchmal sogar über Mathematik.» An manchen Tagen schaffte er 25 Seiten, schrieb oft ganze Nächte hindurch, mit vielen Tassen Kaffee. In den guten Monaten verdiente er so um die 2000 Dollar. Bis heute, sagt Ngugi, habe er mehr als 1000 Arbeiten geschrieben.

Die Ghostwriter-Industrie funktioniert über Websites, die Studenten mit Autoren verbinden. Sie heissen zum Beispiel Essayshark oder Uvocorp, ihr Prinzip ist ähnlich wie das von Airbnb oder Uber. Ein Student gibt an, was er braucht, Thema, Länge, Deadline. Er erhält einen Autor, der über einen Account und eine Bewertung verfügt. Die Accounts werden nicht einfach so vergeben: Interessierte Autoren müssen ein Bewerbungsverfahren durchlaufen, Zeugnisse einreichen, Grammatiktests absolvieren und unter Zeitdruck Probeaufsätze schreiben. Werden sie angenommen, beschäftigen die Account-Inhaber oft Zulieferer, Hilfsautoren quasi. Und manchmal verkaufen sie ihre Accounts für Tausende von Dollar, weil diese der Zugang zu den Geldtöpfen sind.

Kommunikation über WeChat

Es gibt auch Autoren, die unabhängig von den Websites arbeiten. Dennis zum Beispiel, der Umweltingenieur, der in den guten Zeiten bis zu fünfzehn Uni-Kurse gleichzeitig auf mehreren Kontinenten belegte. Er arbeitet mit einem Vermittler, der ihm die Aufträge zuschanzt. Dennis nennt ihn «meinen Arbeitgeber», auch wenn er nicht weiss, wie er heisst oder aussieht. Er weiss einzig, dass es ein Chinese ist, der in den USA studierte, dann aber mit dem Vermitteln von Schreibaufträgen so viel Geld verdiente, dass ihn die amerikanischen Behörden aus dem Land wiesen, weil er sein Einkommen nicht plausibel erklären konnte. Dennis und sein Arbeitgeber kommunizieren über den chinesischen Chat-Dienst WeChat. Dennis sagt, sie hätten ein Vertrauensverhältnis: «Wenn Chinesen sehen, dass du gute Arbeit leistest, behandeln sie dich gut.»

Der Vermittler ist nicht zufällig Chinese. Auch viele der Kunden sind Chinesen – bei Dennis zwei Drittel. Sie studieren in den USA oder anderswo im englischsprachigen Raum und mühen sich mit der Sprache ab. Dank Kenyas Ghostwritern erreichen sie Noten, die sie selbst nicht schaffen würden. Andere Studenten nutzen die Ghostwriter, um das Studium schneller beenden zu können.

So schrieben Ghostwriter wie Ngugi, Dennis und viele andere in den vergangenen Jahren Millionen von Essays. Sie sitzen nicht nur in Kenya, sondern auch in Ländern wie der Ukraine oder Indien, in denen Studentinnen und Universitätsabgänger mit ausgezeichneten Englischkenntnissen etwas verdienen müssen.

Covid brachte noch mehr Arbeit

2020 erhielt die Industrie noch neuen Schub: Während die Covid-Pandemie Volkswirtschaften weltweit abwürgte, begünstigte sie die Ghostwriter. Hochschulen verlegten Seminare und Vorlesungen in den digitalen Raum – und noch mehr Studenten lagerten die Arbeit aus.

Die Geschichte der Ghostwriter-Industrie war eine etwas andere Globalisierungsgeschichte: Die Digitalisierung brachte Kapital aus dem globalen Norden zusammen mit günstiger Arbeitskraft aus dem globalen Süden. Doch dann machte die digitale Technologie einen gewaltigen Entwicklungssprung und nahm den günstigen Arbeitern die Arbeit wieder weg. Es sieht so aus, als ob die Afrikaner wieder einmal die kürzeren Hebel im internationalen Wirtschaftsgefüge bedienten.

Die Folge ist eine Krise – eine wirtschaftliche Krise und eine Sinnkrise.

Sie trifft nicht nur die Ghostwriter selber. Dennis zum Beispiel hat sich sein eigenes Studium mit Schreiben finanziert, nun bezahlt er die Studiengebühren für zwei seiner Geschwister. Die Eltern können das nicht, sie sind Kleinbauern. Und er hat noch sechs weitere Geschwister.

«Die meisten von uns überlegen sich, die Industrie zu verlassen», sagt Dennis. Er bewirbt sich für Stipendien im Ausland. Er muss nicht gross recherchieren, er kennt die Bildungssysteme und viele der Universitäten, er hat an ihnen studiert, Bachelor, Master, manchmal als Doktorand, ohne dass die Universitäten das wussten. Deshalb hilft ihm das nicht bei den Bewerbungen. Wie füllt man Lücken im Lebenslauf, die sich über mehrere Jahre erstrecken? Ein anderer Ghostwriter, 36-jährig, Informatiker, der elf Jahre lang vom Auftragsschreiben lebte, sagt: «Mein Lebenslauf sieht aus, als ob ich frisch von der Mittelschule käme.»

Das ist die Tragik von Kenyas Ghostwritern: Es sind begabte junge Leute mit breitem Wissen, die oft fleissiger sind als Studenten aus wohlhabenden Ländern. Doch wenn sie Stellen oder Stipendien im Ausland suchen, dürfen sie nicht von der Arbeit erzählen, die sie qualifizieren würde.

Bauer statt Professor?

Ngugi hat es geschafft, er arbeitet nun für eine amerikanische Firma, die Inhalte für Websites von Unternehmen liefert. Doch Chat-GPT hat ihn auch da eingeholt. Sein Chef schickt jeden Monat eine Mail an die Mitarbeiter. Darin steht dann zum Beispiel: «Es sind unsichere Zeiten für unsere Branche.»

Trotzdem ergeht es Ngugi besser als den meisten. Sein Kollege Dennis sagt: «Manche von uns gehen in ihre Dörfer zurück, brillante Leute, die nun als Bauern arbeiten oder kleine Läden aufmachen.» Er selber hat schlecht geschlafen in den letzten Wochen – nicht in erster Linie aus Sorge, sondern weil ihn die Untätigkeit unzufrieden macht. Denn der Verlust ist auch emotional. «Schreiben hat uns den Horizont aufgemacht», sagt Dennis.

Nun droht ein Chatbot den Horizont wieder zu schliessen. Es ist denkbar, dass auf Kenyas Feldern künftig Tausende von jungen Leuten arbeiten, die über Kants kategorischen Imperativ und die Beschaffenheit des Strassennetzes in Papua-Neuguinea mehr wissen als darüber, wie man Mais anpflanzt.