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Pour une autre politique de développement!

Beitrag vom 26.06.2024

zeit.de/zett

Eurozentrismus

Auch Verlierer schreiben Geschichte

An den meisten Schulen lernt man: Afrika ist eben arm.
Warum das so ist, ist vielen egal. Wie aber blickt man auf die
Welt, wenn man mit dem Warum aufwuchs? Ganz anders.

Ein Essay von Celia Parbey

Ich bin Tochter eines Togoers. Togo ist ein sehr kleines Land
in Westafrika, es liegt zwischen Ghana und Benin und war
eine deutsche Kolonie. Meinem Vater war es wichtig, dass ich
mein afrikanisches Erbe mit Stolz trage.

Sobald wir zu Hause Zugang zum Internet hatten, machte ich
mir nach der Schule einen Spaß daraus, afrikanische Länder
zu googeln: Malawi, Guinea, Swasiland, Lesotho, stundenlang
scrollte ich durch Wikipedia-Artikel. Ich sog alles auf, was ich
zur Geschichte des afrikanischen Kontinents in die Hände
bekam.
Mit drei Jahren nahm mein Vater mich das erste Mal mit in
sein Geburtsland, wo ich meine Verwandten kennenlernte.
Er machte mir klar, dass ich Ewe bin, eine der ethnischen
Gruppen, die man in Togo, Ghana, Benin und Nigeria findet,
und erzählte mir von unserem Ursprung. Er erzählte mir von
Historiker:innen wie dem Senegalesen Cheikh Anta Diop, die
davon ausgingen, dass wir einst ein Nomadenvolk waren,
das über Nordafrika den Weg nach Westafrika fand. Für
meinen Vater war Togo – war Afrika [https://www.zeit.de/thema/a
frika] – der Mittelpunkt. Der Punkt, von dem aus er auf
Weltpolitik, Geschichte und Wirtschaft blickte.
Eurozentrismus und Afrozentrismus
Auch Togoerin zu sein, darauf war ich immer stolz. Erst als
ich in Deutschland in die Schule kam, merkte ich: Afrikanisch
sein ist nicht besonders cool. Andere Kinder, aber auch
Erwachsene, begegneten mir in Gesprächen immer wieder
mit einer Mischung aus Unwissen und Abwertung.
Mitschüler:innen sagten: "Togo, was soll das sein?" – "Leben
die dort alle auf Bäumen?" – "Gibt's da überhaupt Strom?" –
"Ach klar, Coffee to go!". Die Erwachsenen um mich herum
nutzten den afrikanischen Kontinent als Negativbeispiel, um
uns Kinder zu erziehen: "Iss deinen Teller leer, in Afrika
hungern die Kinder!" Der Kontinent, und damit auch mein
Land Togo – denn differenziert wurde da nicht –, waren eine
Projektionsfläche für weiße, europäische Armutsfantasien.
Als Kind verwirrte mich das. Ich konnte die Wahrnehmung
meines Umfelds nicht mit den Erzählungen meines Vaters
vereinen. Sie existierten parallel zueinander. Die müssen von
einem anderen Afrika sprechen, dachte ich mir.
Für viele Deutsche, das merkte ich irgendwann, standen
Europa, der Westen, immer und überall im Mittelpunkt ihrer
Weltanschauung. Dafür gibt es ein Wort: Eurozentrismus.
Der Eurozentrismus betrachtet europäische Kulturen und
Geschichtsschreibungen als kulturell, politisch sowie
wirtschaftlich überlegen. Eurozentrismus ist die Grundlage
für die rassistischen Stereotype über den afrikanischen
Kontinent, die seit Jahrhunderten die europäische
Geschichtsschreibung prägen. Vielen Menschen in
Deutschland ist nicht bewusst, welche Konsequenzen dieser
rassistische Blick für Menschen und Kulturen dieser Welt
hat.
Der Afrozentrismus entstand als Antwort auf diesen
eurozentrischen Blick. Er zielt darauf ab, die Geschichte,
»In der Darstellung meines Vaters
war es Europa, das schon immer
von Afrika abhängig gewesen war
– und nicht andersherum.«
Kultur und Perspektiven von Afrikaner:innen und der
afrikanischen Diaspora zu feiern und damit die
vorherrschende negative Darstellung Afrikas zu korrigieren.
Die afrozentrische Perspektive meines Vaters eröffnete mir
einen umfangreicheren Blick auf die Welt und ihre Krisen:
auf strukturellen Rassismus zum Beispiel oder auch auf den
Klimawandel. Eine solche Öffnung der Perspektive, eine
Lösung vom Eurozentrismus, wäre notwendig, damit
westliche Gesellschaften die globalen Krisen besser
verstehen.
Der Mythos vom Heilsbringer
Als Teenagerin besuchte ich dann in Berlin eine französische
Schule. Fast alle meine Schulfächer wurden nach dem
französischen Curriculum unterrichtet – auch Geografie und
Geschichte. Meine Mitschüler:innen und ich lernten, Quellen
auf Französisch zu analysieren, Welt- und Landkarten zu
zeichnen und historische Ereignisse zu interpretieren. Der
französische Kolonialismus wurde – anders als in
Deutschland – in unseren Schulbüchern zwar thematisiert,
aber immer als Relikt einer längst vergangenen Zeit. Dass
sich die koloniale Herrschaft auch über die Unabhängigkeit
hinaus auf soziale Strukturen, die Politik, die Wirtschaft und
die Kulturen vieler afrikanischer Länder auswirkte, spielte im
Unterricht keine Rolle. Im Gegenteil: Im französischen
Lehrplan war das Narrativ festgeschrieben, dass die
ehemaligen Kolonialmächte die afrikanischen Länder nach
ihrer Unabhängigkeit beim Wiederaufbau unterstützt hätten
– in Form von Entwicklungshilfe. Europa, der Westen – das
waren dieser Logik folgend die Retter:innen des
afrikanischen Kontinents.
Diese Erzählung stand in deutlichem Widerspruch zu dem,
was mir mein Vater mitgegeben hatte. In seiner Darstellung
war es Europa, das schon immer von Afrika abhängig
gewesen war – und nicht andersherum. Denn Afrikas Naturund Bodenschätze waren für Europas wirtschaftlichen
Aufstieg von entscheidender Bedeutung. Hätte Europa den
afrikanischen Kontinent in der Zeit der Kolonialherrschaft –
und danach – nicht systematisch ausgebeutet, wäre es nie zu
einem so reichen Kontinent geworden.
Dass die europäischen Kolonialmächte den afrikanischen
Kontinent systematisch plünderten, um ihre eigene
wirtschaftliche Entwicklung zu stärken, hat der guyanische
Historiker Walter Rodney 1973 in seinem Klassiker der
postkolonialen Theorie How Europe Underdeveloped Africa
beschrieben. In Zeiten des Kolonialismus galten
Afrikaner:innen den Europäer:innen als wild und primitiv. Es
hieß, ihre rückständigen Gesellschaften müssten in die
Zivilisation geführt werden. Dieses Narrativ diente den
europäischen Kolonialmächten dazu, ihre Herrschaft und
damit die Unterdrückung zu legitimieren. So sicherten sie
sich den Zugang zu afrikanischen Bodenschätzen.
Diese angenommene moralische Überlegenheit Europas, des
Westens, fand ich in meinen Geschichtsbüchern wieder. Die
Europäer:innen hingen weiter dem alten Heilsbringermythos
an, erklärte mir mein Vater, das sei aus der Art, wie
Entwicklungshilfe dort beschrieben werde, zu lesen. Wieder
stellten sich Europäer:innen ins Zentrum, nur dass sie die
Afrikaner:innen jetzt nicht mehr zivilisieren wollten, sondern
auf andere Weise retten: Europäische Regierungen wollten
ihnen dabei helfen, sich so zu entwickeln, wie sie es selbst
getan hatten. Das, sagte mein Vater, erhalte ein
Abhängigkeitsverhältnis, von dem der Westen profitiere,
nach wie vor.
Aktuell zeigt sich das in den Handelsverträgen, die die
Europäische Union mit afrikanischen Staaten abschließt. Im
Fischereisektor im Senegal [https://earthjournalism.net/stories/ho
w-the-european-unions-green-deal-fosters-overfishing-in-west-africa]
zum Beispiel subventioniert die Europäische Union
Fischereiflotten, die die Meere überfischen. Das gefährdet
die Fischbestände und beraubt lokale Fischer:innen ihrer
Lebensgrundlage.
Weil das eigene Wachstum wichtiger ist als der Erhalt von
Natur oder das Überleben der Menschen auf dem
afrikanischen Kontinent, treiben europäische Regierungen
auch den Klimawandel voran.
»Viele Menschen in Europa
nehmen es als gegeben hin, dass
der afrikanische Kontinent ärmer
ist als der Westen. Das Warum
interessiert sie nicht.«
Ein Lob der Brüche
Mein Vater war mein Vorbild, als ich Jugendliche war. Und er
ist es bis heute. Ich liebte die politischen Gespräche, in die er
mich immer wieder verwickelte. Wenn wir zusammen aßen
und er mir stundenlang von unserem Familienstammbaum
erzählte, von seinen Reisen über den afrikanischen
Kontinent oder von den historischen und politischen
Gegebenheiten in Togo, war ich beeindruckt von seinem
Wissen. Mit der Zeit verstand ich, dass ich damit großes
Glück hatte, denn in meiner Klasse hatten nicht alle
Jugendlichen ein oder zwei afrikanische Elternteile, die ihnen
eine andere Sicht auf die Weltgeschichte vermitteln konnten
als die schulische.
Und so lernten meine Mitschüler:innen ungebrochen, dass
Europa in der Welt an erster Stelle stehe, ohne Möglichkeit,
dies zu hinterfragen. Sie lernten, dass die Hierarchien
unserer Welt der natürliche Lauf der Dinge sind – und nicht
das Ergebnis jahrhundertelanger Unterdrückung. Ihnen
etwas anderes zu vermitteln, dafür fehlte mir damals das
Selbstbewusstsein.
Viele Menschen in Europa nehmen es als gegeben hin, dass
der afrikanische Kontinent ärmer ist als der Westen. Das
Warum interessiert sie nicht. Ich aber wuchs mit diesem
Warum auf.
Der Kalte Krieg auf dem afrikanischen
Kontinent
Als Jugendliche erzählte mir mein Vater, welche
Konsequenzen die eurozentrische Weltanschauung für die
Politik afrikanischer Länder hatte. Er erzählte von
demokratisch gewählten Staatsoberhäuptern, die nach der
afrikanischen Unabhängigkeitswelle in den 1960er- und
1970er-Jahren ermordet wurden, um die Interessen Europas
zu wahren – und die einer kleinen afrikanischen Elite.
Patrice Lumumba [https://www.spiegel.de/geschichte/kongo-der-mo
rd-an-patrice-lumumba-1961-a-1074116.html], der erste
freigewählte Regierungschef des unabhängigen Kongo, ist
ein gutes Beispiel. Im Jahr 1961 – sieben Monate nachdem
Lumumba sein Amt angetreten hatte – wurde der von
belgischen Regierungsbeamten, der CIA und seinem
späteren Nachfolger Mobutu Sese Seko erst gefangen
genommen und später ermordet. Lumumba hatte vorher
mehrmals den westlichen Imperialismus angeprangert und
sich gegen eine weitere Einmischung des Westens in die
Politik seines Landes ausgesprochen.
Koloniale Kontinuitäten
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syl-eu-fluechtlingspolitik-olaf-bernau]
Um ihr Machtmonopol nach der Unabhängigkeitswelle zu
bewahren, waren europäischen Regierungen viele Mittel
recht. Und auch die Sowjetunion versuchte, ihren Einfluss
auf dem Kontinent auszudehnen und unterstützte zahlreiche
afrikanische Länder mit wirtschaftlicher und militärischer
Hilfe. Der Kalte Krieg [https://www.fluter.de/der-heisse-kontinent-im
-kalten-krieg] wurde auch auf dem afrikanischen Kontinent
ausgetragen. Aus Angst vor einer sozialistischen
Weltordnung zerschlugen westliche Mächte
emanzipatorische afrikanische Bewegungen. Der
Eurozentrismus bot ihnen eine Rechtfertigung für Morde
und die Unterstützung diktatorischer Regime. Gleichzeitig
präsentierten sie sich der Welt als Retter:innen Afrikas.
Gegen dieses europäische Selbstverständnis musste ich
mich als Kind und als Jugendliche regelmäßig wehren. Es
waren nicht nur Kinder und Erwachsene in meinem Umfeld,
auch in den Medien wurde dieses Narrativ ständig
wiederholt und damit in der Mehrheitsgesellschaft etabliert.
Wenn ich von Togo erzählte, von den Machenschaften
Frankreichs dort, wurde das als Verschwörungsideologie
abgetan.
Die Quellen des Rassismus
Mir half, dass ich mich als Teenager das erste Mal
wissenschaftlich mit strukturellem Rassismus
auseinandersetzte. Im Internet fand ich dafür gute Quellen.
Wieder durchstöberte ich stundenlang Foren und Blogs, las
Artikel und schaute Dokumentationen an. Ich beschäftigte
mich mit Malcolm X, mit Martin Luther King und mit W. E. B.
Du Bois. Ich las James Baldwin, Toni Morrison und Angela
Davis. So verstand ich ganz neue Zusammenhänge hinter
den Hierarchien dieser Welt.
Und ich wurde wütend. Denn mir wurde klar, dass
Schwarzes Leid und Unterdrückung ein globales Problem
sind.
Afrikanische Geschichte in Südafrika
Nach der Schulzeit wollte ich mehr über die Geschichte des
afrikanischen Kontinents lernen. Als 22-Jährige zog ich nach
Südafrika für ein Auslandssemester an der University of
Cape Town und hörte dort zum ersten Mal von Mansa Musa,
der im 14. Jahrhundert das Malireich regiert hatte. Er war
vermutlich der reichste Mann der Welt überhaupt. Ich
studierte die Königreiche Dahomey und Buganda und las
Bücher über den Ursprung und die unterschiedlichen
Ausrichtungen des Panafrikanismus.
Je mehr ich von afrikanischer Geschichte verstand, desto
mehr frustrierte mich der aktuelle Zustand des Kontinents.
Die Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse prägten die
afrikanischen Länder immer noch, lange nach Ende des
Kolonialismus. Mir wurde immer klarer, dass die lange
einseitige Erzählung über den afrikanischen Kontinent
Europa und seiner Bevölkerung diente. Denn solange sich
der Westen weiterhin als Geber präsentierte, hinterfragte
niemand das Ausbeutungsverhältnis, das weiterging.
Nach meiner Rückkehr wandte ich mich mit meiner
Frustration wieder an meinen Vater. War es früher er
gewesen, der stundenlang über Politik gegenüber und in
Afrika sprach, so war ich nun diejenige, die in lange
Monologe über die Ungerechtigkeit dieser Welt verfiel. Auch
wenn ich spürte, dass mein Vater stolz auf mich war, gab es
auch Momente, in denen ich ihn mit meiner Wut fast
überforderte.
Afrikawissenschaft in Berlin
Um mich weiter mit afrikanischer Geschichte zu
beschäftigen, begann ich 2018 in Berlin Afrikawissenschaften
zu studieren. Als im ersten Semester die Grundlagen
afrikanischer Geschichte dran waren, lasen wir in sechs
Monaten keinen einzigen Text afrikanischer
Wissenschaftler:innen. Stattdessen hörte und las ich Woche
für Woche wieder, was weiße Europäer:innen von
Afrikaner:innen hielten: nichts. So lasen wir zum Beispiel
Hugh Trevor-Roper, einen ehemaligen Oxford-Historiker, der
1962 behauptet hatte, Afrika hätte keine Geschichte gehabt,
bevor der weiße Mann seinen Fuß auf den Kontinent setzte.
Nachdem ich in Südafrika von Koryphäen der afrikanischen
Geschichtswissenschaften hatte lernen dürfen, waren meine
Erfahrungen an der Universität in Deutschland
enttäuschend. Ich verstand nicht, warum wir den
rassistischen und längst widerlegten Thesen eines alten
weißen Mannes überhaupt Raum gaben.
Meinen Schwarzen Mitstudierenden ging es ähnlich. Am
Ende des Semesters sprachen wir das Problem in unserem
Seminar an. Unser Dozent versuchte sich damit zu
rechtfertigen, dass ein Großteil der Texte über Afrika, die für
uns zugänglich seien, nun mal von weißen Menschen
geschrieben worden sei.
Trotzdem gab es an meiner Universität auch Lehrende, die
es anders handhabten, zum Beispiel in den
Literaturwissenschaften. Wir lasen nicht nur Werke von
»Der eurozentristische Blick ist
bis heute in den
Afrikawissenschaften
verwurzelt.«
Afrikaner:innen, sondern auch Analysen von Afrikaner:innen
über diese Literatur. Das war der Lichtblick in meinem
Studium in Deutschland.
Die Dekolonialisierung des Denkens
Die dominierende Rolle weißer Wissenschaftler:innen in den
Afrikawissenschaften hatte der kenianische
Literaturwissenschaftler Ng?g? wa Thiong'o schon 1968
kritisiert, in seinem Buch Decolonizing the Mind: The Politics of
Language in African Literature. Diese Dominanz gehe auf eine
lange Geschichte des Kolonialismus und der eurozentrischen
Wissenschaftskultur zurück, schreibt er.
Bis heute dauern die Debatten innerhalb der
Afrikawissenschaften an, wie die Zukunft dieser Disziplin
aussehen kann. Wie soll man mit den Schriften umgehen, in
denen Europäer:innen aus ihrem Überlegenheitsgefühl
heraus über Afrikaner:innen schrieben?
Afrikanische Wissenschaftler:innen fordern, dass koloniale
Denkmuster in den Afrikawissenschaften konsequent
hinterfragt werden. Einer von ihnen ist Sabelo J. NdlovuGatsheni aus Simbabwe, der an der Universität Bayreuth
zum Globalen Süden forscht. Afrikaner:innen müssten
eigene Narrative und Wissenssysteme entwickeln, damit
diese ihre Geschichte und ihre Identität wahrheitsgetreu
widerspiegelten, sagt er und führt damit den Gedanken von
Ng?g? wa Thiong'o fort. Die afrikanische Perspektive, sagt
Ndlovu-Gatsheni, müsse dabei in den Mittelpunkt gestellt
werden. Denselben Gedanken wiederholt auch der
kamerunische Historiker Achille Mbembe oft in seinen
Schriften. Nur so könnten bestehende Machtstrukturen und
Hierarchien gestürzt werden.
Der eurozentristische Blick ist bis heute in den
Afrikawissenschaften verwurzelt. Dabei hätte es auch schon
zu meiner Studienzeit viel Raum für neue Perspektiven
gegeben. Vor allem unter uns Schwarzen Studierenden gab
es eine Sehnsucht danach, den eurozentristischen Blick zu
dekonstruieren. Ich erinnere mich an eine Schwarze
Kommilitonin, die aus ebendiesem Grund ihr Studium
abbrach. Sie wollte nicht zusammenhangslos über die
Geschichte des afrikanischen Kontinents lernen. Schließlich
hatte eben diese Geschichte ihren Alltag maßgeblich
geprägt.
Die Disziplin hat es in Deutschland versäumt, sich mit der
Diaspora auseinanderzusetzen, also mit den Bewegungen
und Erfahrungen Schwarzer Menschen in Deutschland und
anderswo. Dabei ist der Blick auf Schwarze Menschen
weltweit geprägt durch das rassistische Bild, das Weiße von
Afrika haben. Die Geschichte des Kontinents und die
Gegenwart Schwarzer Menschen weltweit sind miteinander
verwoben. Auch hier wirkt der Kolonialismus fort. Er ist der
Ursprung von anti-Schwarzem Rassismus. Aber in den
Afrikawissenschaften hierzulande spielen diese
Kontinuitäten keine Rolle.
»Weiße Deutsche, Europäer:innen
können und wollen sich nicht
Trotzdem möchte ich die Disziplin auch in Schutz nehmen.
Ein großes Problem, das die Afrikawissenschaften in
Deutschland haben, ist das Geld. Es mangelt überall an
Förderungen. Für mich ist das bezeichnend. Europa profitiert
maßgeblich von Afrika. Trotzdem investieren die
Universitäten nicht in eine Wissenschaft, die sich mit dem
größten Kontinent unserer Erde beschäftigt.
"Und was hat das mit Deutschland zu tun?"
Als ich 2017, ein Jahr vor Beginn meines Studiums der
Afrikawissenschaften, meine journalistische Karriere begann,
wurde mir klar, dass das Interesse großer Redaktionen in
Deutschland am vielfältigen Themenkomplex Afrika begrenzt
ist. Wenn ich Geschichten vorschlug, war die erste Rückfrage:
"Und was hat das mit Deutschland zu tun?" Das ist bis heute
so. Immer noch ist das Bild, das viele hier vom afrikanischen
Kontinent haben, unvollständig.
Als ich anfing, als Journalistin zu arbeiten, bestätigte sich,
was ich mein ganzes Leben schon gespürt hatte: Weiße
Deutsche, Europäer:innen können und wollen sich nicht
hineinversetzen in das Leben von Afrikaner:innen, in das
Leben von Schwarzen Menschen. Ich aber wollte dem
Warum nachgehen. In Afrika von Land zu Land reisen und
hineinversetzen in das Leben von
Afrikaner:innen, in das Leben von
Schwarzen Menschen.«
über den kolonialen Ursprung von Konflikten berichten.
Geschichten, die nur auf dem afrikanischen Kontinent
spielten, wurde mir gesagt, interessierten ein deutsches
Publikum nicht. Die Mehrheit interessiert sich eben für
Geschichten, die ihre rassistische Voreingenommenheit
bestätigen: Afrika, Armut, Gewalt, Misere – das funktioniert.
Kein Zentrismus erklärt die Welt vollständig
Mit den Jahren haben sich die Gespräche zwischen meinem
Vater und mir weiterentwickelt. Von Vorträgen haben wir uns
entfernt, heute pflegen wir eher einen Austausch. Er teilt
seine Visionen davon, wie sich die politische Landschaft auf
dem Kontinent entwickeln könnte, mit mir, und ich ergänze
seine Gedanken mit meinen Erfahrungen.
Als Jugendliche habe ich mich gewundert, dass so viele weiße
Menschen glaubten, der Westen sei fortschrittlich – und die
dort drüben in Afrika müssten von ihm lernen. Heute weiß
ich, dass ich das Befremden angesichts dieses Weltbildes
meinem Vater zu verdanken habe.
Um die Komplexität der Gegenwart zu verstehen, muss man
ihr mit einer gewissen Grundskepsis begegnen. Kein
Zentrismus kann die Welt vollständig erklären.