Beitrag vom 03.08.2024
FAZ
Leben in Südsudan
Die Hoffnung starb zuerst
Von Volker Riehl
Ende des Jahres wird in Südsudan zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit gewählt. Aber der Alltag in der Hauptstadt Juba zeigt eine Zivilgesellschaft in Agonie.
Vor dreizehn Jahren erkämpften sich die Südsudanesen ihren eigenen von Sudan unabhängigen Staat. Die Zustimmungsquote beim damaligen Referendum lag bei fast hundert Prozent, die Begeisterung der Bevölkerung in Stadt und Land grenzte ans Rauschhafte – ein halbes Jahrhundert Krieg war mit einem Schlag beendet. Aus der geographischen Gebietsbezeichnung „südlicher Sudan“ entstand „Südsudan“. Dieser jüngste Staat der Welt feierte seine so schwere und blutig erkämpfte Unabhängigkeit ekstatisch. Auch die internationale Gemeinschaft hatte diesem Tag freudig entgegengefiebert und mit ihr die Hilfsorganisationen und Unterstützer zusammen mit Kirchen und Zivilgesellschaft. Alle waren im siebten Himmel – der Aufbau des demokratischen eigenen Staates konnte beginnen.
Schon zwei Jahre später aber zerbrach in Südsudan die Regierung, und es folgte ein mehrjähriger Krieg gegen ehemalige Regierungskoalitionäre mit unermesslichem Leid für die Bevölkerung. Vor sieben Jahren begannen dann Verhandlungen zwischen den Kommandeuren der Hauptethnien des Landes. Sie mündeten darin, dass seit nunmehr fünf Jahren eine Übergangsregierung existiert. Sie soll Ende dieses Jahres durch eine gewählte Regierung abgelöst werden. Es wäre die erste in Südsudan.
Mittlerweile aber wird das Land in einer Reihe mit Afghanistan, Somalia, Syrien oder der Ukraine als „hostile environment“ oder „high-risk-country“ eingestuft – es gehört also zu den gefährlichsten und unsichersten Staaten in der Welt. Arbeitsaufenthalte von Ausländern, zum Beispiel von Diplomaten oder im Dienst von Not- oder Entwicklungshilfe, sind in der Regel nur Einzelpersonen, nicht jedoch ganzen Familien möglich. Individuelle Überlandreisen außerhalb der Hauptstadt Juba sind genehmigungspflichtig und gefährlich. Die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen schreiben ihren Mitarbeitern eine Ausgangssperre von 19 Uhr an vor. Ein mehrmonatiger Aufenthalt ohne Infektion mit einer Tropenkrankheit oder überfallen zu werden ist die Ausnahme. Südsudan ist jedenfalls kein klassisches Touristenziel.
Dass in Juba die Regierungskoalitionäre nicht mehr aufeinander schießen, bedeutet nicht, dass soziale Entwicklungsprozesse und institutioneller Aufbau in Gang kämen. Das Ergebnis des alljährlich erstellten Mo-Ibrahim-Index, der Parameter der Regierungsführung afrikanischer Regierungen bewertet, war 2023 für Südsudan niederschmetternd: Seien es Human Development, Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung, Transparenz, Gesundheit, Demokratie, Pressefreiheit, schulische Bildung, ökonomische Freiheit – überall rangierte das Land im untersten Bereich, mit weiterer Abwärtstendenz.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Südsudan hungert. Nur zwei Prozent der Ausgaben für die Gesundheitsfürsorge stammen aus dem staatlichen Haushalt. Staatsangestellte beziehen ein grotesk niedriges Einkommen, das quasi zu Korruption und Vetternwirtschaft einlädt. Einige ihrer Ministeriumskollegen wiederum sind zu Multimillionären avanciert. Ernst zu nehmende Ansätze, die geschlechtsbezogene Gewalt in allen Bereichen eindämmen und die Umsetzung der Menschenrechte zu gängiger Praxis zu machen, sind Fehlanzeige. Soziale Absicherung gibt es nur durch Unterschlagung oder im Verwandtschaftsverband, zivile Sicherheit nur durch Selbstbewaffnung, Söldner und Sicherheitsfirmen (ein Begleitschutz mit AK 47 für einen Tag kostet fünfzig US-Dollar). Wirtschaftlicher Austausch und Handel basieren auf Bestechung und Vetternwirtschaft, was zu eklatanter Bereicherung durch Unterschlagung führt. Das könnte Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung werden, aber niemand klagt. Die UNMiSS (United Nations Mission in South Sudan) benötigt jährlich 1,8 Milliarden US-Dollar für humanitäre Hilfsmaßnahmen – das entspricht exakt dem jährlichen Staatshaushalt des Landes.
Die Südsudanesen haben kein Vertrauen in ihre Regierung. Von Korruption, Vetternwirtschaft und Veruntreuung profitieren jene wenigen Ethnien, die an der Macht sind. Waren die ersten freien Wahlen in Südafrika Ausdruck von Gleichheit, Stolz und Versöhnung, so sind die nun erstmalig in der kurzen Geschichte Südsudans angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sowie die dann anstehende Verabschiedung der bis dahin auszuarbeitenden Verfassung alles andere als Höhepunkte nationaler Selbstverwirklichung. Die Übergangsregierung zeigt keinen Willen, die politische Entscheidungsfindung und Repräsentanz auf eine breitere demokratische Basis zu stellen, und unternimmt alles, um einen Machtverlust zu verhindern. Staatlicher Souverän ist nicht das Volk oder das zu wählende Parlament, es sind die diktatorischen Machthaber. Nach den kommenden Wahlen wird der aktuell regierende Präsident mit großer Wahrscheinlichkeit weiter amtieren.
Der südsudanesische Staat funktioniert ausschließlich für die regierende Clique, und das sogar sehr effektiv und profitabel. Solange sich die Eliten am Ressourcenreichtum direkt oder über die Vergabe von Staatsbauaufträgen und Schürfrechten bedienen können, besteht ihrerseits keinerlei Interesse an staatlichen Steuereinnahmen oder einer überprüfbaren Abgabensicherheit. An den Hebeln der Macht sitzen Menschen, die Südsudan und seine Ressourcen (Erdöl, Gold, Land) als ihr Privateigentum ansehen. Das Ergebnis des viele Jahrzehnte andauernden Freiheitskampfs endete mit zwei Verbrechen am südsudanesischen Volk: dem Raub ihres Staates zum materiellen Vorteil der herrschenden Eliten und der Verelendung des Großteils der Bevölkerung.
Mit einbrechender Dunkelheit verschwinden in Juba die allgegenwärtigen Verkehrspolizisten aus dem Stadtbild, und die Jugendbanden werden aktiv. Die torontos (eine Bezeichnung, die wohl dem Namen des Hotels Toronto in Juba entlehnt ist, bei dem sich motorisierte Gangmitglieder – bodas – trafen) sind dabei die Softies unter den Gangs. Sie nähern sich mit Motorrädern ihren Opfern und begnügen sich meist ohne weitere Gewalttaten oder Bedrohungen mit entrissenen Einkaufstaschen und Handys. Anders die sogenannten niggas (dieser Name stammt wohl von Bandbezeichnungen afrikanischer Ghetto-Rapmusik): Sie sind später in der Nacht aktiv, meist auch in motorisierten Gruppen, und berauben einzelne Nachtschwärmer.
Juba gleicht modernem Strafvollzug. Tagsüber genießt man „Freigang“ mit mehr oder weniger sinnvoller professioneller Betätigung, abends ist „Einschluss“ hinter hohen Mauern und Stacheldraht. Hinzu kommen noch Wachleute an „panic buttons“, die bei Gefahr den nächsten Sicherheitsdienst alarmieren. Viele Privathäuser und alle Gebäude von Nichtregierungsorganisationen haben einen „safe room“, in dem sich hinter einer verstärkten Stahltür Verpflegungsnotrationen, Wasser und Notfalltelefone befinden. Regelmäßig wird darin der Ernstfall geprobt. Besser sieht es für hohe Militärs und Regierungsvertreter aus: Falls sie überhaupt einmal erst im Dunkeln nach Hause kommen, werden ihre Limousinen von einem Dutzend paramilitärischen Einsatzkräften begleitet.
Die südsudanesische Polizei ist jedenfalls nicht Teil des nächtlichen Sicherheitskonzeptes für ihre Bürger. Ich selbst erlebte einen mitternächtlichen gewalttätigen Vorfall in der direkten Nachbarschaft mit Schusswechsel und einem Toten. Die Polizei traf mit drei Fahrzeugen und zwanzig bewaffneten Beamten gegen zwei Uhr morgens ein, nachdem sich die Lage beruhigt hatte.
Als makabre Wendung der Geschichte kann man ansehen, dass, nachdem während des Befreiungskampfs die größeren Städte im südlichen Sudan von der staatlichen Armee, das Umland aber von der Befreiungsbewegung SPLA kontrolliert wurde, jetzt die SPLA in den Ballungsräumen an der Macht ist, diese aber umgeben sind von Stellungen bewaffneter Gruppen – seien das politische oder Räuberbanden oder politische Räuberbanden. Immer wieder kommt es zu Überfällen auf Überlandbusse und einzelne Fahrzeuge, nicht selten sind dabei Tote und Verletzte zu beklagen.
Jetzt, in der Mitte des Jahres, ist Regenzeit in Juba. Massen von Müll werden dann durch die Stadt geschwemmt und ergießen sich in den Nil, zusammen mit Brauch- und Abwasser nebst Fäkalien. Jeder Haushalt, der es sich leisten kann, wird von Tankwagen mit Wasser aus dem Nil oder aus Brunnen versorgt. Die Entsorgung von Schmutzwasser erfolgt ebenfalls mit Tanklastern – zurück in den Nil. Für die meisten der siebenhunderttausend Bewohner Jubas aber ist solche Wasserver- und -entsorgung zu teuer; ihre Toilette ist die Straße.
Trotzdem ist jedes dritte Fahrzeug in der Hauptstadt ein Lastwagen, der Trinkwasser, Abwasser oder das Personal privater Sicherheitsfirmen transportiert. Jubas städtische Sandpisten ohne Wasserabfluss werden in der Regenzeit zu metertiefen mäandernden Flusssystemen, an deren seichteren Uferzonen sich menschlich produzierter Müll und totes Getier auftürmen. In tiefgelegenen Stadtteilen führt dies zu einer teilweise wochenlangen Müllseebildung, die selbst mittels Offroad-Fahrzeugen nicht gefahrlos durchquert werden kann.
Größere Ausfallstraßen sind immerhin bis zur Stadtgrenze geteert. Als Papst Franziskus Anfang 2023 Juba besuchte, wurden die Verbindungsstraßen von seinem Domizil, der Nuntiatur, zu Staatspalast, Flughafen und Unabhängigkeitsmonument asphaltiert. Ein gängiger Scherz besagt, die Einwohner der Hauptstadt hofften auf jährliche Besuche des Papstes, aber mit jeweils wechselnden Übernachtungs- und Versammlungsorten.
Juba kennt keine Verkehrsschilder und keine Geschwindigkeitsbegrenzung: Es gilt das Recht des stärkeren Fahrzeugs. Am unteren Ende der Verkehrssicherheitsskala rangiert der Fußgänger, ganz oben die Autofahrer. Akzeptieren sie unter sich noch eine klare Rang- und Regelordnung nach Chassisgröße und Hubraumstärke, agieren zwischen ihnen die Motorradtaxis oder bodas. Wie ein Schwarm Bienen begleiten sie den fließenden Verkehr, immer auf der Suche nach einer Lücke. Ihre Fahrer sind virtuose Künstler im Kurvenschneiden und Reindrängen. Als wahre Kobolde der Straße ziehen sie auch schon einmal eine lange Nase, wenn sie jemanden übertölpelt haben. Bis zu fünf Fahrgäste bringen sie auf ihren Zweirädern gleichzeitig ans Ziel. In Ermangelung eines öffentlichen Nahverkehrs sind sie eine kostengünstige, aber lebensgefährliche Alternative.
Motorisierte Rikschas stehen in der Rangordnung des Verkehrs zwischen bodas und Pkws – teurer als jene und mit Dach, allerdings nicht so wendig. Das wird mit Bewaffnung ausgeglichen. Viele Fahrer haben ihre Rikschas mit rotierenden Nabensicheln oder Achsenklingen an den Rädern ausgestattet, wie man sie aus Filmen wie „Ben Hur“ von antiken Streitwagenrennen kennt. Die rotierenden Klingen ragen auf beiden Seiten bis zu einem halben Meter Breite in den fließenden Verkehr, um potentielle Drängler davon abzuschrecken, den Rikschas zu nahe zu kommen.
Polizisten identifizieren mit sicherer Blickdiagnostik Verkehrsteilnehmer nach Stress, Zeitnot oder pekuniärer Potenz. Ein fehlendes oder abgelaufenes Dokument, ein vermeintlich nicht funktionierendes Rücklicht oder angeblich rücksichtslose Fahrweise sind als Gründe für eine Kontrolle gängig. Je nach Laune des Polizisten beträgt die „Ablösesumme“ dann einen bis zehn US-Dollar – natürlich ohne Quittung. Und je später der Abend, desto höher werden solche Abgaben. Vor allem an den Wochenenden steigert sich die polizeiliche Abfangquote noch einmal rasant. Das durchschnittliche zusätzliche Tageseinkommen von Polizisten während der dreistündigen Kontrollkernzeit zwischen 16 und 19 Uhr wird auf mehr als hundert US-Dollar geschätzt, was etwa dem doppelten Monatseinkommen eines Verkehrspolizisten entspricht.
Einmal angenommen, man würde den südsudanesischen Staat, seine Regierung und die Verwaltung abschaffen: Die Bürger würden es wahrscheinlich gar nicht merken. Bewaffnete müssen auch jetzt schon bestochen werden. Für soziale Sicherheit, das Überleben bei Krankheit und im Alter sowie finanzielle Hilfe im Notfall sorgen ohnehin der ethnische Verband und die mittlere Verwandtschaftsebene. Die Antwort der Zivilgesellschaft auf Korruption und Vetternwirtschaft sind selbstregulative Praktiken im Alltagsleben.
In der Hauptstadt dominieren Somalis den Handwerkersektor, Äthiopier besitzen die meisten Hotels und Pensionen, Eritreer kümmern sich um Trink- und Abwassertransport, Bars und Unterhaltungseinrichtungen sind meist in Besitz von Ugandern und Kenianern. Geschäftstüchtige Südsudanesen bleiben dagegen meist im Hintergrund und fungieren als externe Berater mit Beziehungen zu Regierungsstellen. Von ihnen erfährt man, wie man günstig an Lizenzen kommt, wer wen kennt in Korruptistan und wer der beste Strippenzieher ist.
Wo aber bleiben die Einheimischen als ökonomische Akteure? Natürlich gibt es vibrant entrepreneurs auch unter den Südsudanesen, aber in verschwindend geringer Anzahl. Es gibt meist nur Kopfschütteln auf meine Fragen, warum die Menschen hier kaum Landwirtschaft betreiben oder nicht anderweitig produktiv tätig sind. Auch in zweifelsfrei sicheren, fruchtbaren Gebieten verwildern die Äcker. Felder, auch die in den Nilniederungen, liegen weitgehend brach und überwuchern.
Eines vereint fast alle Menschen in Südsudan: Sie sind stolz auf die errungene Unabhängigkeit und tief beschämt und empört über die Unfähigkeit der Regierung, Entwicklungsmaßnahmen anzustoßen und funktionierende Institutionen aufzubauen. Von der befreienden Aufbruchstimmung nach der Unabhängigkeit vor dreizehn Jahren ist nichts geblieben. Die Hoffnung, die die Bürger des neuen Staates damals erfasst hatte, ist erschreckender Lethargie und schicksalsergebener Niedergeschlagenheit gewichen – häufig gepaart mit einer Versorgungserwartungshaltung, die sich an den Staat, die Vereinten Nationen oder Gott richtet.
Das Regime hat Kompetenz dabei bewiesen, Krieg zu führen und Konflikte anzustacheln, nicht jedoch beim Aufbau sozialer Gerechtigkeit. Hinzu kommen aktuell Hunderttausende Flüchtlinge aus dem kriegsgeschüttelten Nachbarn Sudan. Seit dem vergangenen April sind die Erdölexporte Südsudans, die durch Pipelines im Nachbarland führen, erheblich eingeschränkt. Es waren aber die Erdölerlöse, mit denen bislang potentielle Umsturzaspiranten ruhig gehalten werden konnten. Es brauchte flankierend zu dem verfassungsgebenden Prozess und den bevorstehenden Wahlen einen Demokratisierungsschub und eine national-zivile Versöhnungsgeste. Ein Anfang dazu wäre gemacht, wenn zumindest nicht der bisherige Amtsinhabers wieder als Staatspräsident kandidierte.
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Volker Riehl lehrt Betriebswirtschaftslehre an der Universität von Juba und arbeitet als Entwicklungshelfer.