Beitrag vom 26.08.2012
Handelsblatt
Falsche Zauberer
Eine Medizin, die unverwundbar machen soll
34 Bergleute der Marikana-Mine in Südafrika starben im Kugelhagel der Polizei. Einige hatten gedacht, die "Muti"-Medizin habe sie unverwundbar gemacht. Doch selbst nach dem Blutbad ist der Glaube daran ungebrochen.
von Wolfgang Drechsler
Kapstadt. Der kleine Hügel über der Platinmine von Marikana liegt da wie ein Mahnmal. Jeden Tag beten die streikenden Bergarbeiter auf dem blanken Fels für jene 34 Kumpel, die vor ein paar Tagen gleich unterhalb der Stelle von der südafrikanischen Polizei erschossen wurden. Die Bilder der mit Macheten, Knüppeln, Speeren und Schusswaffen ausgerüsteten Bergleute und ihr fast selbstmörderisch anmutendes Vorrücken auf eine Phalanx schwer bewaffneter Polizisten haben sich tief in die Psyche von Südafrika eingebrannt - und Fragen nach der Verantwortung und den Umständen des Blutbades aufgeworfen.
Dass es zu einer solch blutigen Eskalation kommen konnte, hat sicher auch mit der schlechten Ausbildung der vielen jungen Polizisten zu tun, die der gefährlichen Situation nicht gewachsen waren und um das eigene Leben bangten. Schließlich hatten die Minenarbeiter zuvor bereits zehn Menschen umgebracht, darunter zwei Polizisten. Mitschuld trägt aber auch die erbitterte Rivalität zweier Gewerkschaften und das konfuse Krisenmanagement des Unternehmens.
Ein weiterer wichtiger Grund für die Eskalation der Lage wird hingegen oft kaum erwähnt. Es ist der Gebrauch von "Muti", traditioneller afrikanischer Medizin aus Pflanzen oder Tierteilen, die in ganz Afrika weit verbreitet ist und die den Menschen angeblich außergewöhnliche Kräfte und Fähigkeiten verleiht - die Minenarbeiter fühlten sich so unverwundbar gegen die Kugeln der Polizei.
Verabreicht wird die Medizin von einem traditionellen Heiler, dem Sangoma. Ein solcher Medizinmann war offenbar auch zu der bestreikten Platinmine westlich von Johannesburg gebracht worden, um dort ein Muti-Ritual zu veranstalten. Dies könnte erklären, warum viele Arbeiter mit schier wahnsinnigem Mut auf die schwer bewaffneten und zum Schießen entschlossenen Polizisten zumarschierten - und alle Warnungen ignorierten. Nach Aussagen von Teilnehmern an dem Ritual soll der Sangoma ihnen versprochen haben, dass sie durch das Muti für die Polizei entweder unsichtbar oder dass sich die Kugeln der Ordnungshüter in Wasser auflösen würden.
Inzwischen haben mehrere Seiten, darunter eine Reihe von Arbeitern, bestätigt, dass ein Großteil der auf dem Hügel versammelten Männer kurze Zeit vor der Konfrontation mit der Polizei an einem Muti-Ritual teilgenommen haben. Die Johannesburger "Sunday Times" zitiert Senzeni Zokwana, den Präsidenten der mächtigen Gewerkschaft "National Union of Mineworkers" (NUM) mit der Aussage, jeder Streikende habe dem Sangoma 500 Rand (50 Euro) gezahlt und sei dafür mit "ntelezi" beträufelt worden.
Im Rahmen des Rituals habe der Heiler den Arbeitern dann mit einer Rasierklinge in die Haut geschnitten und das Muti, eine braune Tinktur, in die blutende Wunde geschmiert. "Nach der Gabe des Muti waren die Behandelten extrem aggressiv", erzählt Bergmann Bulelani Malawana. "Viele wollten einfach nur kämpfen, weil sie sich nun unbesiegbar fühlten."
Der Gebrauch traditioneller Medizin aus Kräutern oder Knochen ist eine weit verbreitete Praxis auf dem Kontinent. Bei Fußballspielen werden zum Beispiel oft die Trikots oder Schuhe eines Teams vor dem Spiel in eine spezielle Tinktur getaucht. Zudem erhoffen sich viele Afrikaner durch Muti Heilung von Krankheiten, die von Hautausschlägen und Potenzstörungen bis hin zum Kurieren von Aids reichen. Viele glauben, dass die jeweilige Krankheit oft aus einem Mangel an Respekt gegenüber den Vorfahren herrührt, die deshalb keine Heilkraft spenden.
Ein hochrangiger Polizist berichtete der "Sunday Times", dass die Sicherheitskräfte das auf den Felsen vollzogene Muti-Ritual aus dem Hubschrauber heraus gefilmt hätten. "Die Arbeiter standen alle in einer Reihe und wurden nacheinander mit dem Muti beträufelt." Offenbar hätten sie die beiden Felshöcker als einen heiligen Platz betrachtet. Frauen hätten während der ganzen Zeit nicht in die Nähe der Felsen gedurft, weil ihre Präsenz die Kraft des Muti gemindert hätte.
Wie tief der Glaube an die Kraft traditioneller Medizin gerade bei vielen Minen- und Farmarbeitern sitzt, lässt sich daran ablesen, dass ein Großteil der Überlebenden selbst nach dem Blutbad noch immer fest an die Wirkung des Muti glaubt. Die meisten sind überzeugt, dass ohne das Muti-Ritual noch viel mehr Menschen bei der Schießerei ums Leben gekommen wären.
Westliche Berichterstatter ignorieren Muti-Rituale häufig, weil sie ihnen fremd sind und weil viele befürchten, durch eine Darstellung des Aberglaubens ein abschätziges Bild von Afrikanern zu geben, wie es die Kolonialisten früher getan haben. Dabei werden diese Themen in südafrikanischen Zeitungen, und auch unter Schwarzen, seit langem offen debattiert. Die Angst, unbeabsichtigt ein kolonialistisches oder gar rassistisches Bild zu entwerfen, ist daher eigentlich unbegründet.
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Hintergründe zur "Muti"-Medizin
Die Anwendung
Der Gebrauch traditioneller Medizin aus Kräutern oder Knochen ist eine weit verbreitete Praxis auf dem Kontinent. Bei Fußballspielen werden zum Beispiel oft die Trikots oder Schuhe eines Teams vor dem Spiel in eine spezielle Tinktur getaucht. Zudem erhoffen sich viele Afrikaner durch Muti Heilung von Krankheiten, die von Hautausschlägen und Potenzstörungen bis hin zum Kurieren von Aids reichen. Viele glauben, dass die jeweilige Krankheit oft aus einem Mangel an Respekt gegenüber den Vorfahren herrührt, die deshalb keine Heilkraft spenden.
Die Produzenten
In den vergangenen Jahren haben die traditionellen Heiler ständig an Zulauf gewonnen. Tausende Südafrikaner verdienen inzwischen als Sangoma ihren Lebensunterhalt und verkaufen nebenher die Rohstoffe ihrer Tätigkeit wie Innereien, Rinden, Kräuter, Knochen oder Wurzeln. Zu den besonders begehrten Pflanzen gehören dabei Knollen wie die Pfefferrinde oder der wilde Ingwer. Anders als zu Apartheidzeiten können die Heilerinnen und Heiler ihr Gewerbe heute offen praktizieren. Immer mehr Unternehmen, wie etwa der Stromkonzern Eskom, offerieren ihren Angestellten im Rahmen einer Krankenversicherung sogar den bezahlten Besuch beim Sangoma.
Die Konsumenten
Experten beziffern den Anteil der schwarzen Südafrikaner, die regelmäßig einen Sangoma aufsuchen, auf 80 bis 85 Prozent. Die Vereinigung der Traditionellen Heiler, wie sich die Gilde neusüdafrikanisch selber nennt, zählt eigenen Angaben zufolge mehr als 200.000 Mitglieder. Dabei beschränkt sich ihre Klientel keineswegs auf Analphabeten vom Lande. Selbst Akademiker konsultieren vor dem Gang zum Schulmediziner oft erst einmal einen Sangoma.