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Beitrag vom 12.12.2018

Kölner Stadt-Anzeiger

Märklin in Afrika

George Lagoudis ist der dienstälteste Modelleisenbahn-Verkäufer des Kontinents – und er besitzt eine Lizenz des Weltmarktführers „Märklin“ Von Peter Pauls

Ein Besuch bei George Lagoudis ist kompliziert, aber der Weg lohnt. Schon vor dem Zugang zum Sunninghill, einem entlegenen Vorort der südafrikanischen Millionenstadt Johannesburg, muss man einen Kontrollpunkt mit Schlagbaum passieren. Ein Wachmann händigt eine spezielle Passkarte aus. Auf der Weiterfahrt fallen die Hinweisschilder privater Firmen auf, die in der Sicherheitszone Wohnhäuser bewachen. Schließlich erreicht man vor dem eigentlichen Ziel, einer gepflegten Wohnanlage inmitten üppigen Grüns, einen weiteren Schlagbaum. Das Wachpersonal notiert das Autokennzeichen und fragt telefonisch beim Gastgeber an, ob er tatsächlich Besuch erwartet. Zwei Ecken weiter auf diesem Hochsicherheitsgelände dann steht George Lagoudis am Straßenrand und winkt lächelnd.

Der sportlich gekleidete 78-Jährige ist kein Spitzenpolitiker, auch kein Gold- oder Diamantenhändler. Und eigentlich ist er auch gar nicht schutzbedürftiger als ungezählte andere Johannesburger, die sich zu ihrer Sicherheit im Alltag auf all die lästigen Kontrollen verlassen. Und doch ist Lagoudis ein Unikum in der gewalttätigen Metropole. Als Afrikas dienstältester Verkäufer von Modelleisenbahnen verkörpert er eine kleine heile Welt, die sich der harten Realität nicht fügen will.

George Lagoudis entstammt einer Familie griechischer Einwanderer aus dem heute verrufenen Zentrum Johannesburgs. Als es dort noch nobel zuging, vor inzwischen fast fünf Jahrzehnten, übernahm er das Delikatessengeschäft des Onkels in der Nähe des Rathauses: „A. Portas“, gegründet 1896 und damit fast so alt wie Johannesburg, belieferte die griechische Community in der Stadt mit Kalamata-Oliven und Olivenöl, mit Calamari, weißem Feta-Käse und was man sonst noch für die heimatliche Küche benötigt. Die Geschichte des kleinen Lebensmittel-Imports spiegelt Aufstieg und Fall der Wirtschaftsmetropole Johannesburg ebenso wie den Wandel in der jüngeren Vergangenheit, der zwischen Aufbruchswille und Kapitulation vor der allgegenwärtigen Kriminalität schwankt.

Hinzu kommt seine eigene Lebenslinie, die George Lagoudis wie eine Schienentrasse durch die Jahrzehnte gelegt hat: Seit 1972 verkauft er Spielzeug-Eisenbahnen. Er hat verschiedene Marken im Angebot. Doch sein Stolz und Geschäft sind die „Märklin“-Modelle. Die Lizenz des Weltmarktführers war für ihn der Ritterschlag. Schwer sei es gewesen, sie zu bekommen, erinnert er sich. Der damals 32-Jährige reiste eigens ins schwäbische Göppingen, legte seine Finanzen offen und wartete geduldig. Es dauerte Tage. Dann bekam er den Zuschlag.

Südafrika war kein schlechterer Markt für Modelleisenbahnen als etwa Deutschland. Liebhaber gab es auch am Kap. Als Lagoudis in den Verkauf einstieg, begannen die Supermarktketten gerade dem Einzelhandel zuzusetzen – auch seinem Laden mit den griechischen Delikatessen. Mit seinen Eisenbahnen jedoch, so Lagoudis’ Kalkül, würde er konkurrenzlos sein. Ein Stück kindliche Emotion wird auch im Spiel gewesen sein. Lagoudis liebt, was er verkauft. „Ich kam, ich sah, ich spielte“, deklamiert er lächelnd. So entstand eines der ungewöhnlichsten Geschäfte Johannesburgs, das Spielzeug und Speisen nebeneinander feilbot und bald von den Reiseführern als Geheimtipp empfohlen wurde.

Während in Lagoudis’ Werkstatt die Züge heute digital gesteuert und mit täuschend echtem Sound durch die Modell-Landschaften fahren, erzählt der alte Mann von früher, als in der Wirklichkeit nichts wie auf Schienen lief. Politisch hoch explosiv sei die Lage Mitte der 1970er Jahre gewesen. „Die Apartheids-Politik war falsch.“ Und doch habe er sein Leben als Weißer in dieser reichen, armen Stadt gelebt und seine schwarzen Angestellten so gut behandelt, wie es ging. „Manche waren 30 Jahre bei uns.“

„Das Gold hat Johannesburg geschaffen“, sagt George Lagoudis. Jede Entwicklung folgte den Erfordernissen der Minen, die immer tiefer in die Erde getrieben werden mussten, um weiter Edelmetall fördern zu können. Dafür brauchte es Arbeiter vor allem. Aber auch Ingenieure, Ärzte, Buchhalter, Schulen und Universitäten. Das Gold brachte Wohlstand, Kultur, Einkaufsmeilen und Vergnügungen, aber auch Kriminalität und Gewalt zuhauf. Von drei Einbrüchen in seinem Laden binnen eines Jahres berichtet der Modellbahnhändler – und von schrecklichen Morden. Der Wirklichkeit der Minenstadt setzte Lagoudis eine idealisierte Miniaturwelt gegenüber. Für Freunde und Kunden veranstaltete er Clubabende. An ihren Wochenenden verlegten sie gemeinsam Gleise, bauten Bahnanlagen, modellierten ihren Traum von einem Leben, das niemals entgleist; von einem Land, in dem die Bäume immer grün sind und die bunten Blumen in ihren Kästen an den schmucken Einfamilienhäusern immer blühen.

Dabei ist der Geschäftsmann Lagoudis im richtigen Leben kein Träumer, sondern einer, der mit anpackt. Er engagierte sich in der griechischen Gemeinde Johannesburgs. An seiner Seite stand der Rechtsanwalt und Apartheidskritiker George Bizos, der Nelson Mandela verteidigt hatte, als der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Ob er je daran gedacht habe, nach Griechenland auszuwandern, ins Land seiner Väter? Lagoudis quittiert die Frage mit einem verständnislosen Blick. „Meine Heimat ist hier. Hier bin ich zur Welt gekommen, und ich kenne jede Straße in Johannesburg.“

Wie zum Beweis zählt er die sechs Querungen auf, die zwischen seinem Geschäft und der Hauptverkehrsstraße lagen, damals, als die Zulu-Partei „Inkatha“ 1994 zu einem Protestmarsch aufrief. Es gab Tote und Verletzte – wie häufig in der Zeit kurz vor den ersten demokratischen Wahlen. Südafrika bewegte sich am Rand zu einem Bürgerkrieg. Am wahrscheinlichsten war er in Johannesburg. George Lagoudis beschloss, die Innenstadt zu verlassen und den Sitz seiner Firma zu verlegen.

In der „Galleria Mall“, einem unterirdischen Einkaufszentrum im Vorort Rosebank, blieb das Geschäft dann für 16 Jahre, was eine kleine Ewigkeit ist. Den Kaffee brachte eine Modellbahn den Besuchern an ihren Platz, und die internationale Kundschaft grüßte einander auf Griechisch, Italienisch, Deutsch oder Portugiesisch. Seine Frau Areti kochte, und die Journalisten der benachbarten „Sunday Times“ kamen regelmäßig zum Essen. Der rege Betrieb stand in bitterem Kontrast zu den leeren Schaufenstern benachbarter Ladenlokale. In den 80er Jahren waren überall in den Vororten Einkaufszentren entstanden, weil kaum noch jemand zum Shoppen in die Johannesburger City ging. Mittlerweile gab es ein Überangebot. „A. Portas“ und ein afrikanischer Frisiersalon waren über Jahre die letzten verbliebenen Nutzer der „Galleria“, die etwas Spukhaftes hatte. Doch die Modellbahnfreunde ließen sich nicht abschrecken.

2011 zog George Lagoudis noch einmal weiter, an den äußersten Stadtrand. Sunninghill ist ein aus dem Boden gestampftes Viertel, nah an Autobahnen und Schnellstraßen. Auch 30 Kilometer von dem Ort entfernt, wo er einst das Sortiment seines Geschäfts um Modelleisenbahnen erweitert hatte, verkaufte „A. Portas“ wieder alles, woraus sich um ein paar Schienen herum eine heile Welt bauen lässt: die Faller- und Kibri-Häuschen, die winzigen Autos und Figürchen aus Plastik, neuerdings auch digitale Steuerungsanlagen.

Ein Mann der alten Schule sei George Lagoudis, sagt Dagmar Bauer von „Märklin“. Sie betreut ihren südafrikanischen Vertragshändler seit Jahrzehnten. Einer, der ihr schreibt, für welchen Kunden er genau diese oder jene Lokomotive kauft; einer, der in seinen Mails immer eine kleine Geschichte erzählt, aber nie geschwätzig sei. So führe er sein Geschäft seit 46 Jahren und behaupte sich bis heute gegen die Online-Riesen. „Da gehört schon was dazu.“ Ganze zwei Händler in Afrika beliefert „Märklin“ noch direkt. Der eine ist „George, der Grieche“, wie sie ihn in der Szene nennen.

George Lagoudis ist Kaufmann. Politik umschifft er. Nur hin und wieder entfährt ihm doch ein Satz. Wie schwer es sei, aus Südafrika ein Land für alle zu machen, zum Beispiel. Aber sogleich kehren die Gedanken und die Blicke zurück zu seinem Spielzeug: zu der Mini-Ausgabe einer „Tante Ju“, des legendären Transportflugzeugs Junkers 52; zu dem Wasserturm, dem Kinderkarussell, dem Flussdampfer. Alles original „Märklin“-Teile, sagt Lagoudis stolz. Schon als Kind habe er damit gespielt. Was er heute seine „Werkstatt“ nennt, erinnert verblüffend an den ehemaligen Verkaufsraum von „A. Portas“, den vermutlich jeder der früher etwa 350 Modellbahn-Sammler im südlichen Afrika kannte. Viele von ihnen hätten inzwischen die letzte Reise im großen Zug angetreten, seufzt Lagoudis. Doch er sei immer noch gefragt. Wie zur Bestätigung zeigt sein Handy drei, vier Kunden-Nachrichten an. George Lagoudis ist noch im Geschäft – in seiner Welt, die bis zu den Sicherheitsschranken von Sunninghill reicht und dennoch unendlich ist.