Beitrag vom 04.06.2019
FAZ
In Sudan liegen die Nerven blank
Kämpfer der Militärjunta erschießen in Khartum friedliche Demonstranten. Nach der Absetzung Omar al Baschirs kämpfen beide Seiten um die Macht im Land.
Von Thilo Thielke
KHARTUM, 3. Juni
Es ist fünf Uhr am Montagmorgen, als die Kämpfer der Militärjunta in Khartum die Barrikaden stürmen und das Feuer eröffnen. Zu dieser Zeit sind nicht mehr allzu viele Demonstranten auf den Straßen, die zum Militärhauptquartier in der sudanesischen Hauptstadt führen. Minutenlang hallen die Salven aus Maschinengewehren durch die Straßen. Dutzende Demonstranten brechen von Schüssen getroffen zusammen, andere flüchten panisch. An den Ausgängen des Platzes stehen Polizeieinheiten, die sie niederknüppeln. Wer Glück hat, kann sich auf das Gelände von Krankenhäusern in der Nähe retten und sich dort verstecken. Es dauert nicht lange, dann ist das Gebiet um das Verteidigungsministerium und die Gebäude von Armee, Luftwaffe und Marine geräumt. Wenig später kursieren erste Bilder der Gewalt in den sozialen Netzwerken.
„Die Soldaten sind ohne Gnade gegen unsere Leute vorgegangen. Es war ein Massaker“, sagt der 24 Jahre alte Pharmazeut Mohammed Awad Sigeir. Er ist Mitglied des Zentralkomitees sudanesischer Pharmazeuten – eine der vielen Berufsgruppen, die sich im Berufsverband SPA vereint haben und die Proteste organisieren. Mohammed Awad hat in Indien studiert und spricht fließend Englisch. Er gehört zu denen, die seit dem 6.April hinter den Barrikaden Wache gehalten haben. Von seinen Kollegen hat er gehört, dass mehr als dreißig Demonstranten getötet worden sein sollen. Das Zentralkomitee sudanesischer Ärzte sprach am Montagnachmittag von 13 Toten.
Seit Wochen fordern die „Kräfte von Freiheit und Wandel“ die Abdankung des Militärrats, der seit dem Sturz des ehemaligen Diktators Omar al Baschir am 11.April die Kontrolle über das Land übernommen hat. Doch die Verhandlungen zwischen den Führern der Protestbewegung und Militärs geraten immer wieder ins Stocken. Um den Druck auf die Militärs zu erhöhen, hatten die Demonstranten in der vergangenen Woche zu einem zweitägigen Generalstreik aufgerufen. Seitdem liegen die Nerven blank.
Die Lage spitzt sich immer weiter zu, seit Tagen wird wieder scharf geschossen in Khartum. Am Donnerstag wurde eine im sechsten Monat Schwangere erschossen – nach Angaben des Militärrats von einem betrunkenen Soldaten. Einen Tag später starb ein 20 Jahre alter Mann, der in ein Kreuzfeuer zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppen der Streitkräfte geraten war. Schon am Samstagmorgen rollten Pick-ups der Militärjunta in die Stadt. Sie gehörten vorwiegend zu den Einheiten des sudanesischen Geheimdienstes und den paramilitärischen „Rapid Support Forces“ (RSF), die die Kontrolle über Khartum übernommen haben. Regimegegner zählten einen Toten und 23 Verwundete. Angeblich hatten die Einsatzkräfte eine Razzia gegen Drogen- und Alkoholdealer durchgeführt. Die Revolutionäre allerdings werteten den brutalen Einsatz als Ankündigung einer weiteren Eskalation, die dann am Montagmorgen folgte. Auch am Sonntag waren in der Innenstadt Khartums Schüsse zu hören. Rauchsäulen stiegen auf – dort, wo die Männer der RSF die Zelte der Demonstranten niederbrannten, und dort, wo sich mutige Gegner der Junta versammelten und Autoreifen in Brand setzten.
Unmittelbar nach Beginn des Militäreinsatzes hatte der Berufsverband SPA die Menschen dazu aufgerufen, massenhaft auf die Straße zu gehen und zivilen Ungehorsam zu üben. „Der verlogene und mörderische Militärrat muss gestürzt werden, um unsere Revolution zu vollenden“, hieß es auf der Facebook-Seite der Gruppe. Doch die Rhetorik der Junta war immer aggressiver geworden.
Zuletzt hatte sie erklärt, auf dem Demonstrationsgelände liefen Drogendealer und Prostituierte umher und es herrsche „jede Form der Kriminalität“. Ausländern – „Journalisten, Diplomaten, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen“ – war der Besuch der Zone fortan untersagt. Zudem wurde dem Nachrichtensender Al-Dschazira die Berichterstattung verboten und das Khartum-Büro geschlossen.
Die Lage in Sudan ist kompliziert. Auf der einen Seite stehen überwiegend jugendliche Demonstranten aus der Großstadt, Vertreter alter Oppositionsparteien, die von al Baschir brutal unterdrückt worden waren, und Vertreter diverser Rebellengruppen, die zum Teil seit Jahrzehnten gegen die verschiedenen Regimes in Khartum kämpfen. Auf der anderen Seite befinden sich die reguläre Armee und verschiedene paramilitärische Einheiten. Anfang April marschierten die Dschandschwid-Milizen, die vor geraumer Zeit in „Rapid Support Forces“ umbenannt worden waren, in Khartum ein und übernahmen die Kontrolle über die Hauptstadt. Zwei Tage später stürzte al Baschir. Die Rolle der „Rapid Support Forces“ ist undurchsichtig. Einerseits schießen sie immer wieder auf Demonstranten, andererseits gilt ihr Führer, Mohamed Hamdan Daglo, den alle nur Hemeti nennen, als derjenige, der al Baschir letztendlich zu Fall brachte. Hemeti ist offiziell nur zweiter Mann der Junta, gilt aber als der Mächtigsten in dem zehnköpfigen Rat.
Für den Pharmazeuten Mohammed Awad besteht kein Zweifel daran, dass Hemeti nach der Macht in Sudan trachtet. Er hält die Verhandlungen des Militärrats lediglich für taktische Manöver, um die Volksbewegung auszubremsen. Diese hatte Mitte Dezember mit Massenprotesten begonnen und damit das Ende der islamistischen Herrschaft al Baschirs eingeläutet. Im gegenwärtigen Vorgehen gegen die Demonstranten sieht Mohammed Awad den endgültigen Versuch des von Hemeti dominierten Militärrats, die Macht an sich zu reißen und das Land in eine Militärdiktatur zu verwandeln. „In den nächsten Tagen wird die Lage hier eskalieren. Wir werden unsere Revolution nicht kampflos aufgeben“, sagt er. „Und wenn es zum Krieg kommt.“ Für den größten Feind der Revolutionäre hält er die „Rapid Support Forces“. Deren Einheiten bestünden zum Großteil aus Banditen aus Darfur und Galgenvögeln aus Sahelstaaten. Viele dieser Söldner sprächen Französisch und nur gebrochen Arabisch. Die städtische Elite des sudanesischen Niltals betrachtet die Paramilitärs mit einer Mischung aus Furcht und Herablassung.
Auf der anderen Nilseite, in Omdurman, beobachtet Sadiq al-Mahdi die Lage in Khartum mit Sorge. Al-Mahdi ist 83 Jahre alt. Sein Urgroßvater war Muhammad Ahmad – jener legendäre Mahdi, der 1881 den Aufstand gegen Ägypter und Briten anführte. Zweimal war Sadiq al-Mahdi Premierminister seines Landes, zum ersten Mal in den sechziger Jahren. 1985 führte er einen Volksaufstand gegen den moskautreuen Militärdiktator Jafar Mohammed al-Numeiri an. Auch damals stürzte das Militär den Präsidenten, nachdem es zu Massenprotesten gekommen war. Ein Jahr später gab es die Macht freiwillig ab und ermöglichte demokratische Wahlen, die Sadiq al-Mahdi und seine Umma-Partei gewannen. Allerdings regierte er nicht lange; 1989 wurde al-Mahdi von Omar al Baschir und den Muslimbrüdern gestürzt.
Im Gegensatz zu den jugendlichen Revolutionären von heute misstraut al-Mahdi dem Militär nicht grundsätzlich und verweist auf seine Erfahrungen aus den achtziger Jahren. Den Generalstreik hat er deshalb abgelehnt. „Wir befinden uns in einer gefährlichen Lage“, sagt er. „Im Moment sieht es so aus, als würden beide Seiten die Lage eskalieren lassen.“ Natürlich verurteile er die Gewalt der Junta, doch auch die Demonstranten müssten rhetorisch abrüsten. „Sonst besteht die Gefahr, dass sie den Konterrevolutionären einen Vorwand liefern und alle Errungenschaften der vergangenen Wochen verlorengehen.“
Für al-Mahdi sind die Ereignisse der vergangenen Wochen die Folge einer „Kette von Zufällen“: „Als al Baschir angeordnet hat, ein Blutbad unter den Demonstranten anzurichten, haben sich einzelne Offiziere geweigert, diese Befehle auszuführen.“ So hätten sie die Militärführung zum Eingreifen gezwungen. Zwangsläufig sei diese Entwicklung jedoch keineswegs gewesen. Besonderer Dank gelte deshalb auch Hemeti: „Zwar waren dessen Männer für unvorstellbare Grausamkeiten in Darfur verantwortlich, und Hemeti war lange Zeit ein treuer Gefolgsmann Baschirs, doch er hat sich jetzt auf die richtige Seite geschlagen und die blutige Diktatur beendet. Er ist Teil des Versöhnungsprozesses geworden.“
Die Forderung nach einem rein zivilen Übergangsrat hält al-Mahdi angesichts der Rolle des Militärs bei der Festsetzung al Baschirs deshalb für überzogen. Zivilisten und Militärs müssten eine gemeinsame „Regierung der Versöhnung“ bilden und dann Wahlen vorbereiten, damit das Land eine demokratisch legitimierte Regierung bekommt. Allerdings sei der Weg dahin lang: Omar al Baschir habe während seiner dreißig Jahre währenden Tyrannei „Sudan zur Beute seiner Nationalen Kongresspartei gemacht“. Deren Mitglieder dominierten immer noch Gerichte, Medien und sämtliche Institutionen der Regierung. Wahlen könnten erst stattfinden, wenn die Kongresspartei zerschlagen sei und ihre Mitglieder aus ihren Ämtern entfernt seien. Baschir habe parallel zur Armee zudem diverse bewaffnete Gruppen geschaffen, die entwaffnet werden müssten. Außerdem sei eine Verfassungsänderung nötig.
Ob die Revolutionäre, deren Protest bis jetzt absolut friedlich verlief, und die Vertreter des Militärrats nach den blutigen Ereignissen vom Montag noch einmal zusammenfinden, ist im Moment allerdings fraglich. Nach der jüngsten Eskalation sind große Teile Khartums wie ausgestorben. Immer wieder ziehen Gruppen camouflierter Bewaffneter durch die Straßen der Hauptstadt und schlagen auf die wenigen ein, die ihre Häuser trotz des Ausgangsverbots verlassen haben. „Wir haben alle Gespräche abgebrochen“, sagt der Demonstrant Mohammed Awad Sigeir. „Es geht jetzt um alles.“